Poesie

    Der Tierlibaum

    Mit dem Tierlibaum sind wir aufgewachsen, meine Geschwister und ich. Er hat uns begleitet bis in unser Erwachsenenleben hinein. Er verkündet den nahenden Frühling mit seinen grazilen gelben Blütenständen, die wie unzählige filigrane Krönchen den Strauch in einen feinen Schleier hüllen. Und erst im Sommer, wenn Grossmamas Weiher zum Bade lud und wir barfuss über den Tierliteppich zum Bassin rannten, nachdem wir unsere Kleider auf dem Bänklein unter dem Tierlibaumdach zurückgelassen hatten. Herrlich der rot matschige Sumpf und lustig, das zerquetschte Fruchtfleisch in den Zehenzwischenräumen! Das mussten wir fein säuberlich herausklauben und wegspülen, bevor wir ins Wasser tauchten.

    Auch wenn die beiden riesigen unnahbar starr verzweigten Sträucher nicht mehr sind, Tierlibäume geistern durch meine Erinnerung und beleben meine Phantasie…

    Sibi, die Tierlibaum-Elfe, war betrübt. Sie hatte sich ganz nah an den dicksten senkrechten Ast gedrückt und hielt ihn fest umschlungen. Obwohl ringsum die Tierlikrönchen blühten, machte sie ein trauriges Gesicht. Ihre Freundin, die dicke einbeinige Amsel, hatte dem frechen Kater nicht entwischen können. Sie lag mit gespreizten Flügeln im Gras unter dem untersten Ast des Tierlibaumes und regte sich nicht mehr. Sibi kletterte weiter hinauf zur starken Astgabel, wo die Amsel ihr Nest gebaut hatte. Ja, da lagen drei Eilein drin. Was sollte hetzt hier werden? Sibi überlegte, wie wohl zu helfen wäre. fand aber keine Lösung. Da flatterte der bunte Distelfink herbei. „Sibi“, zwitscherte er, „Was schaust du so traurig drein?“ - „Sieh doch nur, die Amsel ist tot und ihre drei Kinder sind noch im Ei drin.“ Der bunte Vogel legte den Kopf schief, piepste leise und schnappte nach einem winzigen Insekt. Dann flatterte er zur toten Amsel hinunter und hüpfte rund um sie herum. Er zwitscherte etwas, hob ab und flog in lustigen Bogen durch den Garten davon. Sibi war verärgert. Auf diesen Clown unter den Vögeln konnte man sich wirklich nicht verlassen. Sie näherte sich dem Amselnest und blies ihre warme Atemluft über die Eier hinweg, als plötzlich der Distelfink zurückkam. „Ich war bei der Singdrossel, die ist doch auch so gross wie die Amsel. Ich habe ihr erzählt, dass die einbeinige Amsel tot ist. Die Drossel hat ihre Brut schon ausgebrütet und die vier Jungen sind flügge. Jetzt kommt sie gleich zu Hilfe.“ – Sibi war etwas verlegen, ihre Wangen waren ganz heiss, hatte sie doch dem Spassvogel Distelfink Unrecht getan. – „Das hast du grossartig gemacht, Luftibus, Entschuldigung, das …“ Sibi konnte nicht mehr weiter sprechen, da kam schon die Singdrossel geflogen, landete und zwängte sich zwischen den Ästlein und Sibi durch bis zum Nestrand. Vorsichtig stieg sie ins Nest, setzte die Füsse zwischen die Eier, machte sich ganz breit und deckte sie zu. „Das hat aber pressiert!“, zwitscherte sie Sibi zu. „Die Eilein sind schon ganz kalt, gut dass du mit deinem Atem etwas geholfen hast. Mal sehen, was ich machen kann.“ Der Distelfink flatterte aufgeregt auf und ab rund um den Tierlibaum herum. Er wollte allen Gartenbewohnern kund tun, dass er, Luftibus, die Singdrossel gefunden hatte, um die Amselkinder zu retten. Das war dem Rosenkäfer zu viel. Er sauste mit viel Gebrumm zum Tierlibaum und landete neben Sibis Schulter. Er versorgte seine braunen Hautflügel unter den grüngoldenen Deckflügeln und machte seinem Ärger Luft: „Was macht auch Luftibus für ein Theater, nur weil vielleicht die drei Vögel ausschlüpfen. Wenn sie aber meine Kinder aufpicken, ist er auch mit dabei.“ – „Du musst halt deine Kinder auch im Tierlibaum verstecken, da sind sie sicherer und ich könnte auch über sie wachen“, beruhigte ihn Sibi.

    Ein eigenartig grunzendes Geräusch, das eher wie ein Husten klang, kündigte den dicken Igel an, der sich gern am Fuss des Tierlibaumes aufhielt und nach Schnecken und Regenwürmern suchte, Mit seiner Nase stiess er die tote Amsel an. „Hach, hach! Schade, sie war immer so nett und sang so wunderschön auf der Tannenspitze!“

    Sibi turnte durch die starren Äste nach unten, breitete ihre regenbogenfarbigen Elfenflügel aus und setzte sich neben die Amsel ins Gras. Sie schien etwas zu überlegen, wie sie so da sass und betrübt den toten Vogel betrachtete. Plötzlich kam ihr eine Idee: „Du, Igelkari, kannst du nicht ein Gräblein machen für die Amsel?“ – „Hach, hach, könnte ich schon, wenn ich wollte, aber, was gibst du mir Sibi?“ – „Ich schenke dir ganz viele Tierlibaumkrönlein und stecke sie auf deinen Stachelrücken. Dann wirst du der schönst Igel im ganzen Garten sein.“ Dieses Angebot war so verlockend, das sich Igelkari gleich an die Arbeit machte, als von der Spitze des Tierlibaumes ein heiseres Lachen erklang. „So schnell hat der noch nie gegraben! kicherte das Käuzlein vor sich hin. Es segelte lautlos nach unten, setzte sich neben Sibi auf einen unteren Ast und half ihr, Blütenkrönlein zu pflücken, um Igelkari zu belohnen. „Komm, setz dich auf meinen Rücken zwischen die Flügel. Wir holen ein paar braune Platanenblätter vom Kompost. Damit können wir die Amsel zudecken.“ sagte der Kauz, drehte den Kopf nach allen Seiten und blinzelte. Sie flogen mehrmals hin und zurück, bis sie genug Material hatten und sich ein eigentlicher Hügel bildete, wo die Amsel gelegen hatte. Dann schmückten sie das Grab mit einigen Blütenkrönchen, Igelkari war stolz auf seinen neuen Stachelschmuck und wollte sich unbedingt ansehen, weshalb er davonbeinelte und in der Pfütze beim Regenwasserfass sein Spiegelbild bewunderte. Er konnte sich kaum satt sehen, so schön fand er sich mit dem goldgelben Blüten.

    Der Rosenkäfer beobachtete den Igel aus sicherer Distanz, schimpfte über den eitlen Kerl und kurvte surrend zu Sibi zurück, denn in ihrer Nähe wusste er sich in Sicherheit. Sibi freute sich, dass es gelungen war, der einbeinigen Amsel gemeinsam ein Grab zu schmücken und die Tierlibaumfreunde dazu beigetragen hatten.

    Das Käuzlein sass wieder fast zuoberst im Tierlibaum, die Singdrossel wärmte die Amseleier, der Distelfink Luftibus flatterte immer noch in lustigen Bogen auf und ab, während sich die Tierlibaumelfe wieder tiefer in den Strauch zurückzog, um auszuruhen. Sie war müde, aber sie freute sich schon auf die jungen Amseln, die ausschlüpfen und im nächsten Frühjahr aus dem Tierlibaum das Vogelkonzert in den ganzen Garten hinaustragen würden.


    Für meine Gottentochter Ursi Flück Mösch
    Ruth Sussanna Zschokke
    November 2010